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Gerda Sengstbratl

Maturarede, 16.Juni 2003

Sehr geehrte Anwesende,

Ich habe gespielt, herumgespielt mit dem Wort Matura. In diesem Wort steckt Einiges verborgen, das ich Ihnen im Folgenden präsentieren möchte.

Im Juni vor acht Jahren begann es. Damals duzten mich viele und heute sind wir wieder beim Du. Wir könnten daraus folgern, dass zwischen Du und Du nichts war. Dazwischen aber lieben viele, viele, viele kleine funkelnde Steinchen. Einige davon werde ich nun hochheben und das Schimmern mit Ihnen teilen.

Es begann mit Schildkröten, Tiertagen und einem Schaukelstuhl. Dominique Tutsch schaukelte am meisten und übersprang in der Folge eine Klasse. Möglicherweise sollten wir ernsthaft überlegen, die Sessel in Schulen gegen Schaukelstühle auszutauschen. Nicole Bohrn formulierte die Klassenregeln. Sie wusste, dass Regeln ohne Konsequenzen zahnlos sind, also schrieb sie eine Regel, die da lautete: "Verwende keine Schimpfwörter. Wenn ja, dann musst du das Schimpfwort 100x schreiben." Zu Beginn der KOKOKO-Stunden legte eine ihre Schlüssel in die Mitte. "Wer kommt noch auf die Schlüsselparty?" Die Anwesenden legten ihren Schlüsselbund auf einen Haufen. Die Schlüsselparty als Anfangsritual. Die KOKOKO "Party" konnte beginnen. Einzelne kamen und fragten "Sag, wen hast du eigentlich am liebsten?" Nach einigen Monaten fragten sie und gaben sich gleich selbst die Antwort: "Ja, ja. Wir wissen es eh schon." Und dann im Ton einer Gebetsmühle: "Jedes Kind ist ein Gewürz und nur alle zusammen ergeben ein bestimmtes Aroma."

Lassen Sie mich nun zu meinen Spielereien kommen: Kombiniert man die Buchstaben des Wortes MATURA, so kriegt man viele wundersame Ergebnisse. Sechs davon werde ich vor Ihnen ausbreiten.

MATURA - A-A--T-U-R-M

Die Matura ist also die Besteigung eines Turms. In diesen vergangenen acht Jahren sah ich einige diesen Turm hopsend und pfeifend erklimmen. Andere spazierten gemächlich hoch, andere schnauften und schwitzten. Manche wurden geschoben, gezogen, getragen, erpresst und bedroht. Stufe um Stufe. Im Turm selbst wurde gelacht, geweint, gezittert, gestritten, getrauert, geschrieen. Es gab Kinder, die jede Stufe mutterseelenallein gingen. Andere hatten Mamas, Papas, Omas und Opas, Tanten, Onkel, und andere liebevolle Erwachsene als Rückenstärkung. Viele Kinder und Jugendliche führten einander hoch. Es wurde geliebt und geträumt. Der Turm wimmelte von Lebendigkeit und jeder Tag war ein Neubeginn. In der achten Klasse lagen viele dann aus Erschöpfung morgens mit dem Kopf am Tisch.

MATURA - T-R-A-U-M-A

Manche von euch haben Menschen, Tiere und Orte, die sie liebten, verloren oder losgelassen. Manche haben Krankheiten überstanden, Angst gehabt, Selbstzweifel entwickelt, sich einsam gefühlt, auch weil sie wirklich alleine gelassen wurden und sind an Grenzen gestoßen. Trotz all dieser schmerzhaften Erlebnisse und Erfahrungen seid ihr jetzt hier.

MATURA - T-U-R-A-M-A

Kommt von "Tu räumen!" Matura heißt: Nie wieder wirst Du eine Lehrperson diese Aufforderung zu Dir sprechen hören.

MATURA -M-U-T-A-R-A

Ich bin bei der Matura in Latein durchgefallen und hab bei Bischof Krenn Nachhilfe bekommen, also darf ich sagen, dass das Wort "MUTARA" mich erinnert an "MUTATION"

Und durch diese Mutation bzw. diese Veränderung bin ich selbst durch die Berührung mit Euch gegangen.

Ich bin privilegiert.

Ich durfte die Lehrerin sein.

Für mich seid ihr die spannendste und inspirierendste Bevölkerungsgruppe Österreichs. Ihr lacht mehr, als alle anderen. Ich danke euch für die Lebendigkeit, für Esprit, Widerstandsgeist, den Willen zur Entfaltung und eure menschliche und geistige Intelligenz. Ich bin reicher, als ich es war, bevor ich euch kannte. Ich habe mich als Person in den vergangenen acht Jahren mindestens so stark entwickelt, wie ihr.

Ich danke hier Müttern, Vätern und KollegInnen, die mit mir zusammen getragen, zugehört, sich den Mund fusselig geredet, manchmal geschoben, gezogen, erpresst und bedroht haben. Beeindruckt und bewegt haben mich jene Eltern, die nach einem Grundsatz handelten, der da lautet: "Nur wenn es allen Kindern einer Gruppe gut geht, geht es meinem Kind gut."

MATURA- T-A-R-A---M-U

Tara ist eine tibetische Göttin, die das Unmögliche möglich gemacht hat: Sie hat sich so lange als Frau reinkarniert, bis sie als Frau Erleuchtung erlangte. Sie war die Jahre über da, auch wenn niemand sie sah.

M-U weiß ich nicht.

Seit einigen Tagen steht ihr auf der Aussichtswarte dieses bestiegenen Turms. Die Aussicht atemberaubend. In der Ferne beinahe am Horizont schimmert etwas. Man kann es nicht klar erkennen. Oh, ich sehe es: MATURA - A--T-R-A-U-M. Was dieser Traum nun genau ist, erahnt jede und jeder selbst. Manche sehen klar die Umrisse und die Details der Faserung. Von Michi Zwillink, Ursula Kafka und mir bekommt ihr einen Schlüssel mit auf den Weg, der euch jede Tür öffnen wird, die ihr aufschließen wollt. Jede Tür in einen Zukunftstraum.

Die Schlüsselidee hat zwei Quellen:

1. In Afrika gab ein Lehrer 1968 Schlüssel und die Idee hat sich über Jahre hindurch durch Hörensagen weitergehantelt, bis sie eines Tages in mein Ohr fiel.

2. Peter Vavra, den ich so einschätzte, dass er so etwas als Paperlapapp und Kinderei abtun würde, stand nach der Matura vor mir und sagte: "Sie wissen eh: der Grund ist die Glücksbringermuschel vom Schulanfang!" Und wenn einem Peter eine kleine Muschel helfen kann, dann können wohl Schlüssel die Türen in Zukunftsträume aufschließen!

freiheit_perlen

Danke.

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