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Feministische Mädchenschule in Wien | Österreich, 1991-2001

Gerda Sengstbratl

Die VirginiaWoolfSchule ist bei mir im Keller in Schachteln versteckt. Gelagert. Sie schläft. Heute ist ihr zehnter Geburtstag. Leise schleichen wir durch den Keller. Wie sie, sind auch wir drei anderen heute zu diesem Anlass zehn Jahre alt: Venus von Willendorf, unsere Urmutter, Rosa Mayreder, Wirtshauskind und feministische Philosophin und ich, das Mädchen vom Land, die Lehrerin.

Verkleidet, die Gesichter mit Russ beschmiert, tänzeln wir auf Zehenspitzen durch den Keller, stellen hüpfend Kerzen auf, zünden sie an. Wir haben Dahlien aus dem Garten in zehn große Vasen verteilt und breiten lapislazuliblauen Seidensamt und eine violette Schantungseidenrobe auf die Erde.

In den Schachteln beginnt es zu rumoren. Wir hören ihr Gekichere. Sie ist aufgewacht. Wir sitzen am Boden und warten. Aus den Schachteln springt die zehnjährige VirginiaWoolfSchule heraus. Schreit, fuchtelt, springt in unsere Mitte. „Leg dich in die Farben!“ weist die Venus sie an. Sie legt sich erwartungsvoll zappelig hin. Wir drei berühren sie feierlich und zärtlich mit unseren Mädchenhänden.
 
„Also liebe VirginiaWoolfSchule,“ beginnt Rosa feierlich. „Wir haben ein Geschenk für dich. Wir werden dir heute Dank sagen, für dich wünschen und dich segnen.“ -„Das hätten wir schon längst tun sollen.“ Fährt die Venus fort. „Wir lieben dich nämlich, du Hoffnung der österreichischen Bildungspolitik.“ Die VirginiaWoolfSchule, dieser zehnjährige Mädchengeist lächelt. Sie, die Seele der österreichischen Mädchen.
 
Wir drei stehen auf und singen ihr lauthals, “To the earth, to the air, to the fire, to the water.” Wir rufen die Göttinnen zusammen, die hellen und die dunklen. Sie lacht schallend.
 
Wir setzen uns und nun bin ich an der Reihe „Weißt du, Extreme machen die Welt breit. Extreme sind die Vorbeugung gegen den Wahnsinn der Enge. Die Existenz von Extremen macht mir die Welt zu einem Bett, in das ich mich gerne hineinlege.
 
Vor zehn Jahren saß ich in einem Cafe, als einer am Nebentisch aus der Zeitung laut vorlas, „He, horcht euch das an: Feministische Mädchenschule Virginia Woolf in Wien gegründet.“ Damals bist du geboren. Und heute schläft du in Schachteln gepackt in meinem Keller.“ - „Ich weiß, du bist nicht genug getragen worden, meine Gute,“ sagt Rosa und küsst ihr die Stirn. „Deine Wichtigkeit wurde nicht von vielen erkannt, meine liebe Freundin,“ sagt die Venus.
 
„Was hat meine Existenz für dich bedeutet?“ fragt die VirginiaWoolfSchule mich, „und was ist meine Bedeutung jetzt?“
 
„Liebe VirginiaWoolfSchule, danke für deinen Mut und den Schutz, den du mir und anderen geboten hast. Du hast dich an den äußersten Rand gestellt. Ich selbst bin nicht mutig genug, mich an den Rand zu stellen. Ich bin zu schwach, hab weniger Mut, als du. Du warst mutiger als ich, stärker, waghalsiger, sturköpfiger. Du hast dich hingestellt und die Funktion des Reibebaums ertragen. Weil sie sich an dir so reiben konnten, brauchten sie sich nicht an denen dazwischen reiben. Auf dich haben sich die Projektionen, die Aggressionen, die Vorurteile und die Ausrottungsversuche konzentriert. Du hast dich so exponiert, dass alles, was ich als Lehrerin im Regelschulwesen an Mädchenstärkung und Gewaltprävention gearbeitet habe, im Mittelfeld war. Danke, dass du die Ausrottungsversuche, die Verleumdungen und die Abwertungen für mich und für andere ausgehalten hast. Dafür bedanke ich mich. Du hast dieses Land für mich breit gemacht.
 
Du hast den Geldfluss in die Mädchenarbeit erleichtert und du hast manchen Angst gemacht. Die Augen starrten auf dich, die Ängste konzentrierten sich auf dich, ich profitiere davon. Ich konnte beinahe unbeobachtet meiner Arbeit nachgehen. Ich berief mich auf dich, ich benützte dich, ich war die Nutznießerin. Du hast Angst gemacht, du hast polarisiert, du hast geholfen, den eigenen Standpunkt zu suchen, und zu finden, du hast die Analyse geschärft. Bei dir liefen die Fäden aller Aktivitäten zusammen.
 
Dein Dasein hat mich geschützt. Dein Dasein hat mir die Angst genommen. Ich habe dich im Rücken als Deckung gespürt und vorne als Schutzschild. Du hast die Aktivitäten vieler Frauen, die in Österreich an der Stärkung von Mädchen gearbeitet haben, sichtbar gemacht. Du hast die Diskussionen vorangetrieben.
 
Du hast für mich Österreich breit und weit gemacht. Liebe VirginiaWoolfSchule, ist der Rahmen für uns so breit für das, was dazwischen lag, geworden, dass wir wurden mit dem Zeitpunkt deiner Geburt als normal betrachtet, und zehn Jahre lang von Verrücktheit und Wahnsinn freigesprochen, entlassen aus der Isolation. Weich ist es durch dich geworden, luftig, breit, durchsichtig, entspannt, nicht mehr gehetzt. Deine Existenz hat mich geschützt und gehegt. Ich war eingehüllt in deinen seidensamtblauen Schutzmantel. Viele haben von deiner Existenz profitiert.
 
Seitdem du nun hier weggepackt wurdest und verwahrt wirst, stehen die, die Mädchen in den österreichischen Schulen stärken wollen, alleine da. Sind in die Vereinzelung zurückgefallen. Jetzt sind sie und auch ich das Extreme, das ohne den Schutz, den du uns gegeben hast, dastehen. Jetzt sind wir wieder der Attacke ausgeliefert. Ich spür es: „Jetzt wird’s eng,“ hör ich sie. „Oh, jetzt halt ma die Goschn!“, „Jetzt wird wieder jeder Lurchfussel, den wir hinter den Schränken hervorkehren, als Bedrohung betrachtet werden,“ „Oh, jetzt bekommen wir wieder den Stempel der Wahnsinnigen aufgedrückt.“
 
Jetzt ist es wieder so, wie sie’s gern haben. Das Unkraut in ihren Augen ausgejätet, jetzt ist es wieder sauber. Danke den Müttern, die ihre Töchter zu dir geschickt haben und die sich vor den „Niemals würde ich meine Tochter dorthin schicken,“ rechtfertigen mussten. Danke den Mädchen, die zu dir gegangen sind. Danke den Frauen, die bei dir die Konzepte und die Arbeit gemacht haben. Von ihnen haben wir anderen profitiert. Sie alle haben mein Leben besser gemacht.
 
Man kann auch töten, indem man schweigt, indem man austrocknet, indem man nicht gießt, indem man so tut, als wäre etwas bedeutungslos.
 
Diejenigen an den politischen Hebeln der Bildungspolitik, die immer behaupten, ihnen sei die Gleichstellung ein Anliegen, hätten den Rahmen den du geschaffen hast, schützen und weiten können. Sie hätten alles tun müssen, um dich am Leben zu erhalten, egal, wer wie dazu steht. Du hättest Förderung, Unterstützung, Getragenwerden verdient, und sie hätten dir Gelder zufließen lassen müssen. Denn wenn man ins Extreme investiert, sprießen die Keime im Mittelfeld von selbst. Sie hätten durch deine Förderung das Gesamtsystem fördern können. Mädchenbildungspolitik wäre so am stärksten vorangetrieben worden.
 
Bei mir im Keller lagern nun die Energien dieser Arbeit an dir. Schön bist du. Stark. Lebendig. Quirlig. Übermütig. Unvorhersehbar deine Aktionen. Weise in der Seele. Unberechenbar. Zornig. Wutschnaufend. All das kann ich sehen, wenn ich dich ansehe, wie du da nun liegt. Dich freust. Mich erinnerst du, die im Keller Abgestellte, an Judy Chicagos Dinner Party. Die Revolution verstaut, aufgeräumt, weggepackt. Beurteilt als zu extrem. In mir haben sowohl die Dinner Party als auch die Virginia Woolf Schule Grundsätzliches verändert. Etwas, das immer bleiben wird.
 
Liebe VirginiaWoolfSchule, Du hast meiner Mädchenseele in diesem Land eine Heimat gegeben. Du hast mich die Selbstliebe gelehrt. Was versteht das Mädchen in mir durch dich? Ich bin Dir wichtig. Es ist dir nicht egal, was aus mir wird. Es gibt Räume und Frauen, die mich stärken wollen, die mich wild und zart wollen. Es gibt welche, die mir den Weg breittreten, es gibt welche, die eine Vision von meiner Zukunft haben. Das Wissen um das, was Frauen auf dieser Erde für andere Frauen und Mädchen gemacht haben, erleichtert das Leben der Generationen, die folgen.
 
Wir müssen es dann nicht mehr erfinden, sondern nur nützen wie eine Start- und Landebahn für das, was jede Frau, jedes Mädchen im Leben will, so sieht Luisa Francia das. Ich muss dich, liebe VirginiaWoolfSchule nicht mehr erfinden, sondern ich brauche nur losfliegen von der Startbahn, die Deine Existenz mir geschaffen hat. Ich werde fliegen, das verspreche ich dir.“
 
„Nähren wir, bewahren wir dich als Start- und Landeplatz zum Fliegen. Next time werden wir es klüger machen. Nicht mehr verkümmern lassen. Nicht mehr alleine lassen, was so wertvoll für die Gesamtheit ist, wie du es bist“ sprechen Rosa und Venus feierlich im Chor.
 
Die VirginiaWoolfSchule ist von diesem Wortschwall aus unseren Mündern in den Traum süßen Schlafes gesunken. Wir breiten den blauen Seidensamt über sie, um sie warm zu halten. Die Kerzen flackern. Die Dahlien duften. Wir schleichen uns hinaus, küssen uns zum Abschied, rennen auseinander, Rosa, Venus und ich.top > nach oben